(19.4.20) Natürlich ist es auch ein bisschen Wortspielerei, was jetzt folgt, aber ich schreibe es dennoch. Vor ein paar Tagen sagte mir jemand, man müsse ja jetzt „Soziale Distanz“ halten. Er hatte natürlich die englische Redewendung „social distance“ im Hinterkopf, von der jetzt überall die Rede ist. Ganz gleich, was es im Englischen noch alles bedeutet, wenn man es wörtlich mit „Sozialer Distanz“ übersetzt, liegt man ziemlich daneben. Der Mann, der das zu mir sagte, meinte es auch gar nicht so. Er meinte ganz richtig „körperlichen Abstand“, denn um den geht es und der ist wichtig im Moment.
Aber soziale Distanz im eigentlichen Wortsinn ist das Letzte, was wir im Moment brauchen. Ganz im Gegenteil. In einer Zeit, in der es kaum Geselligkeit ausserhalb der Kernfamilie gibt, in der ältere Leute gezwungen sind, zu Hause zu bleiben, in der Kontakte zwischen den Generationen eingeschränkt sind, kommt es gerade darauf an, soziale Nähe zu praktizieren.
Dazu bedarf es übrigens keiner körperlichen Nähe. Es gibt technische Möglichkeiten wie zu keiner Zeit vorher, als nicht einmal jeder ein Telefon hatte. Noch schöner ist ein handgeschriebener Brief oder eine Postkarte. Der Fantasie sind eigentlich keine Grenzen gesetzt, damit sich niemand einsam und verlassen fühlt. Vielleicht muss man auch einfach ein bisschen die Scheu überwinden und öfter mal zum Hörer greifen als sonst. Soziale Nähe ist also im Moment sogar mehr gefragt als zu anderen Zeiten.
Man könnte auch sagen: christliche Nächstenliebe. Das Wort Nähe steckt ja sogar in dem Wort mit drin. Gott kommt mir in meinem Nächsten entgegen, ich teile einem anderen etwas von Gott mit durch meine Nähe und Zuwendung. Das sind die Ideen dahinter und die müssen gar nicht immer ausgesprochen werden oder im Voraus berechnet sein. Am schönsten ist es, wenn Nächstenliebe – oder eben auch soziale Nähe – sich unverhofft spüren lässt und wie selbstverständlich da ist.
Wirft man einen Blick in die Geschichte, sieht man schnell, dass der christliche Glaube immer dann am attraktivsten war, wenn er diese Nächstenliebe praktiziert und somit auch soziale Nähe geschaffen hat. Ob das im alten Rom war oder durch die Gründung der mittelalterlichen Spitäler. Heute ist in unserer modernen westlichen Welt vieles davon aus unseren christlichen Gemeinden ausgewandert und vom Sozialstaat übernommen worden. Aber das darf keine Ausrede dafür sein, dass wir als Einzelne damit nichts mehr zu tun haben. Also, lasst uns um Gottes und der Menschen Willen Nähe wagen. Bei dem gebotenen körperlichen Abstand versteht sich.
Pfarrer Torsten Amling